München, LHM
Interview mit Florian Ludwig

„Die Transformation hin zu einer prozessorientierten Organisation ist eine sehr große kulturelle Herausforderung.“

Die Landeshauptstadt München hat 2019 begonnen, Geschäftsprozessmanagement als Grundlage für die Digitalisierung einzuführen.[1] Dabei geht es um eine wirksame Ausrichtung der gesamten internen Arbeitsorganisation auf die eigenen Ziele bzw. auf das, was die Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen und Organisationen von ihrer Stadtverwaltung benötigen. Mit Errichtung der dauerhaften Organisationseinheit GPM Governance (LHM) und einem bekräftigenden Stadtratsbeschluss wurden 2022 weitere wichtige Weichen gestellt. Cassini begleitet die stadtweite Einführung von Beginn an.
Wir haben mit Florian Ludwig, Leiter GPM Governance (LHM), über seine Erfahrungen und die besonderen Herausforderungen bei der GPM-Einführung gesprochen.

Herr Ludwig, seit vier Jahren kümmern Sie sich an zentraler Stelle um die Einführung und Weiterentwicklung von Geschäftsprozessmanagement in der Landeshauptstadt München. Was genau ist mit dem Zielbild einer „prozessorientierten Organisation“ im Stadtratsbeschluss aus dem letzten Jahr genau gemeint? Was heißt Prozessorientierung für die Verwaltung?
Vereinfacht gesagt erbringt die LHM ihre Leistungen auf Basis ständig weiterentwickelter Geschäftsprozesse. Für die Erstellung einer Leistung, die auch vom Kunden honoriert wird (vgl. E2E vs. kleinteilige Prozesse, die an Organisationsgrenzen enden), arbeiten oftmals mehrere Organisationseinheiten zusammen. Das ist in einer bisher stark funktionsorientierten Organisation nicht immer einfach zu organisieren. Die Prozessorientierung stärkt also die Ablauf- gegenüber der Aufbauorganisation – für die Verwaltung eine große und tiefgreifende kulturelle Veränderung.

Wie ist Geschäftsprozessmanagement in der LHM organisiert? Wo ist es angesiedelt, von wem wird es verantwortet?
Mit dem Bereich GPM Governance im Personal- und Organisationsreferat (POR) gibt es einen Bereich der zentral die Governance für das Thema GPM in der gesamten Organisation vorgibt. Vorgaben werden, wo möglich und sinnvoll, mit Vertretern der Referate erarbeitet und abgestimmt. In den Referaten gibt es mit den GPAM-Bereichen [2] jeweils Einheiten, die das strategische und operative GPM intern verantworten. Diese dezentralen Einheiten setzen GPM zusammen mit den Fachbereichen um. Das laufende Prozessmanagement findet dann in den Fachbereichen statt, je Prozess gibt es je einen Prozesseigner für die Strategie und einen Prozessverantwortlichen als operativen Manager.

Was Ist Ihre Vision für die Stadt München, wenn GPM flächendeckend einmal eingeführt und verankert ist?
Die Stadt München ist ein serviceorientierter moderner Dienstleister, die auch von Kunden*innen als solcher wahrgenommen wird. Die Form der Leistungserbringung orientiert sich dabei an digitalen Zugangskanälen. Aber nicht nur die Zugangskanäle sind digital, auch im Back-Office und für die Mitarbeiter*innen ist die LHM ein moderner und digitaler Dienstleister, bei dem weniger Hierarchien als mehr die partnerschaftliche Zusammenarbeit in den Prozessen im Vordergrund steht.

Stichwort GPM und Digitalisierung – warum wurden beim initialen Stadtratsbeschluss 2019 beide Themen zusammenbetrachtet?
Sinnvolle Digitalisierung fußt auf optimierten Prozessen bzw. auf solchen, die vom Scope her richtig geschnitten sind, damit das Ergebnis des Prozesses auch die vom Kunden erwartete Leistung trifft. Hier setzt GPM an. Oftmals beginnt der Prozess auch nicht erst, wenn der Kunde aktiv bei der Verwaltung nachfragt, sondern sich z.B. schon online über die Services und wie er diese erhalten kann informiert. GPM hilft dabei den jeweiligen Prozess ganzheitlich zu betrachten und so die richtige Basis für die spätere Digitalisierung zu schaffen.

Wie sind Sie bisher bei der Einführung vorgegangen?
Grob vereinfacht sind wir bei der Einführung in drei Phasen vorgegangen. In den ersten ungefähr 12 bis 18 Monaten haben wir viele zentrale Vorgaben entwickelt und diese in Form eines GPM-Handbuches im Intranet sowie im aktualisierten Modellierungshandbuch festgehalten. Parallel wurde ein Schulungskonzept entwickelt sowie eine Change-Architektur. In der zweiten Phase, etwa ab Ende 2020 haben wir uns stark auf die Umsetzung der Change-Architektur fokussiert und neue Formate entwickelt, um das Thema GPM den Projekten in der LHM, den Führungskräften, Fachbereichen und Veränderungsmanagern bekannt zu machen. Diese Maßnahmen laufen auch jetzt noch weiter, wobei sich die meisten Formate inzwischen etabliert haben, z.B. unsere GPM-Themencafés.
Seit 2022 versuchen wir, nicht mehr nur GPM einzuführen, sondern im Sinne des 2022er Stadtratsbeschlusses die LHM in Richtung einer prozessorientierten Organisation weiterzuentwickeln. Dafür rücken Aspekte wie Kulturentwicklung, Governance – d.h. auch Zielvorgaben und stadtweites GPM-Controlling – sowie die Entwicklung und Stärkung von Netzwerken mehr in den Vordergrund.

Auf welche zentralen Herausforderungen sind Sie bei der GPM-Einführung in den letzten Jahren gestoßen? Mit welchen haben Sie gerechnet und welche waren eher unerwartet?
Die Transformation der LHM hin zu einer prozessorientierten Organisation ist eine sehr große kulturelle Herausforderung für die Organisation. Dies war erwartbar. Nicht erwartbar war die teils verhaltene Unterstützung der oberen und obersten Führungsebene in den Referaten zu GPM. Diesen wichtigen Stakeholdern den Nutzen und Mehrwert von GPM näherzubringen, ist eine große Herausforderung.  

Welche Auswirkungen hat die Einführung von Prozessmanagement auf die Organisationsstruktur und die Kommunikation in der LHM?
Derzeit sind organisatorische Anpassungen aufgrund der GPM-Einführung noch selten. Eine Anpassung der Organisation ist auch keine zwingende Notwendigkeit für die erfolgreiche GPM-Einführung. Mittelfristig sollte die Aufbauorganisation die Ablauforganisation aber bestmöglich unterstützen. Die direkte Kommunikation zwischen „ausführenden Rollen“ und Prozessverantwortlichen – in beide Richtungen – ist eine große Neuerung in der Organisation, welche durch GPM-Einführung und die hierfür erstellten organisatorischen Vorgaben etabliert wurde. 

Wie unterscheidet sich die Einführung von GPM in der kommunalen Verwaltung von vergleichbaren Projekten in der Privatwirtschaft?
In der Privatwirtschaft wird GPM regelmäßig zur Kosteneinsparung eingeführt. In der LHM ist dies kein primäres Ziel. Zwar spielt Effizienzsteigerung auch eine Rolle, aber eher dahingehend, dass die Verwaltung ihre Aufgaben auch künftig mit gleich vielen bzw. sogar weniger MA stemmen muss, schon aufgrund des demographischen Wandels. Zukünftig besteht die große Herausforderung darin, offene Stellen überhaupt mit Personal besetzen zu können; dafür braucht es attraktive Arbeitsplätze – hier leistet GPM einen wertvollen Beitrag.
Ein weiterer Unterschied ist der hohe Grad an dezentraler Eigenständigkeit der Referate – bedingt durch das „neue Steuerungsmodell“: Hier wurden den Referaten teils umfangreiche Freiheiten wie die dezentrale Ressourcenverantwortung eingeräumt. Dies ist am ehesten mit einer Konzernstruktur zu vergleichen, in der zentrale Vorgaben auch nicht immer auf Begeisterung bei den Konzerntöchtern treffen. 

Welche Rolle spielt die Unternehmenskultur beim Wandel hin zu einer prozessorientierten Organisation? 
Verwaltungen sind per se eher funktionsorientierte Organisationen. Vor allen Dingen langjährige Mitarbeiter*innen sind auf Beständigkeit, klare Strukturen und hierarchische Sichtweisen sozialisiert. 

Die DNA der Verwaltung ist erst einmal nicht besonders anschlussfähig an die Funktionsweise der prozessorientierten Organisation.

Florian Ludwig, Leiter GPM Governance (LHM)

Die Veränderung der Kultur ist an dieser Stelle ein langer Prozess, der durch viele kleine Maßnahmen gestaltet wird, wie z.B. Netzwerktreffen für Prozesseigner und Prozessverantwortliche, eine Marketingkampagne für das Thema GPM, Roadshows für die obersten Führungsebenen in den Referaten, Themencafés und Informationsveranstaltungen für verschiedene Zielgruppen – z.B. Fachbereiche, Projektleitungen, Personalvertretung – aber auch durch die Verknüpfung von GPM in den Führungs- und Steuerungsinstrumenten der LHM. In den Referaten unterstützen Change-Verantwortliche die Einführung vor Ort, allerdings sind diese teils keine ausgewiesenen Changemanager und verfügen oft nicht über die eigentlich erforderlichen Kapazitäten für das Thema.

Was sind für Sie die wichtigsten Meilensteine, um GPM in den kommenden Jahren nachhaltig in der Organisation zu verankern?
GPM über Erfolgsgeschichten in der Organisation positiv zu verankern, wird sicherlich die größte Wirkung erzielen. Wichtig wird auch sein, stadtweit vergleichbare Prozesse zu identifizieren und zu vereinheitlichen. Dies gilt auch für Sub- oder Teilprozesse, die dann einheitlich von allen Referaten – im besten Fall weitgehend digital – genutzt werden können. Formal sind natürliche die GPM-Ziele zu erreichen, die sich u.a. aus LHM-spezifischen Reifegradmodellen für die einzelnen Prozesse als auch für die gesamte Prozessmanagement-Organisation ableiten.

Wo hat die LHM in Bezug auf GPM derzeit Nachholbedarf? 
Der erklärte Wunsch des TOP-Managements, GPM zu etablieren, könnte noch deutlicher bzw. überzeugender in die Organisation getragen werden. Aufgrund der komfortablen Finanzlage wurde in der Vergangenheit oftmals auf eine Steigerung der Fallzahlen mit mehr Mitarbeiter*innen reagiert, anstatt Prozesse tatsächlich zu optimieren und zu digitalisieren. Apropos Digitalisierung: Zukünftig soll der Fokus auf Standards gelegt werden, Stichwort „Process follows IT“. Hier sind andere Kommunen, ggf. aufgrund ihrer engeren Finanzlage gezwungenermaßen weiter.

Was können andere Kommunen in Bezug auf die Einführung oder Umsetzung von GPM von der LHM lernen?
Wir haben seit 2019 viel geschafft und auch innovative Ansätze und Formate entwickelt, um die Referate und Eigenbetriebe bei der Umsetzung der zentralen Vorgaben für das GPM zu unterstützen. Roadshows auf Führungskräfte-Ebene sind vermutlich noch in vielen Organisationen bei solch großen Veränderungsvorhaben üblich – wir gehen mit unseren Angeboten aber bis in die einzelnen Fachbereiche und erarbeiten mit diesen gemeinsam in sogenannten Kurzformaten, was einzelne Aspekte des GPM – z.B. die Steuerung von Prozessen mit Hilfe von Prozesssteckbriefen, die Anwendung von Reifegradmodellen und das Austarieren der Zusammenarbeit zwischen Prozessverantwortlichen, Prozesseigner*innen und Führungskräften – konkret für sie bedeuten und wie sie diese Vorgaben am besten umsetzen können.
Zusätzlich bieten wir viele Hilfestellungen bei der zentralen Umsetzung von Change-Maßnahmen an, z.B. durch Leitfäden, Change-Schulungen und Netzwerktreffen im Rahmen der GPM-Einführung oder das Teilen von Good Practices in Form von kurzen Blogbeiträgen im Intranet. Im Rahmen der GPM-Einführung haben wir immer wieder gelernt, wie wichtig das Thema Kulturveränderung ist, und haben gemeinsam mit Vertreter*innen der Referate auch eine Art Zielbild entwickelt, dem sich die Organisation insgesamt aber nur langsam annähert. Das gelingt durch viele kleine Änderungen und vor allem durch das Vorleben wichtiger Werte, wie z.B. Veränderungsbereitschaft, Kundenorientierung usw. durch Führungskräfte. 

Wenn Sie in der Zeit zurückreisen könnten und die GPM-Einführung in der LHM noch einmal neu starten könnten, was würden Sie mit Ihrem heutigen Wissensstand anders machen?
Top Management Attention von Anfang an noch mehr einfordern. Aktive Fürsprecher auf dieser Ebene gewinnen, die sich regelmäßig zum Thema äußern. GPM-Leuchtürme identifizieren, realisieren und in der Organisation promoten.

Ganz herzlichen Dank, Herr Ludwig.

Im Interview

Florian Ludwig, Leiter GPM Governance (LHM)
Florian Ludwig

Leiter GPM Governance im Personal- und Organisationsreferat (POR), Landeshauptstadt München

Das Interview führte
Christian Kretschmer, Cassini Consulting
Christian Kretschmer
Management Consultant