Wie sind Sie konkret mit dem Thema Kulturwandel im Kontext der Agilität umgegangen?
Den Kulturwandel erreicht man durch Success Stories und Good Practices – ganz nach dem Motto „Tue Gutes und rede darüber“. Dabei versuchen wir nicht, zuerst die Führungskräfte von Agilität zu überzeugen. Die Transformation muss sich von unten heraus durchsetzen.
Das bedeutet, Dinge mit der nötigen Geduld auch einfach einmal anzugehen. Wir müssen akzeptieren, dass nicht zu jedem Vorhaben eine agile Herangehensweise passt und wir diese nicht mit Zwang durchsetzen können.
Aber ein Fachverfahren, das über inkrementelles Vorgehen in weniger als einem Jahr eingeführt wird, ist eine Erfolgsgeschichte, welche die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und in der Konsequenz auch die Führungskräfte zu mehr Agilität motiviert.
Die öffentliche Verwaltung steht durch ihre Organisationsstruktur und teils starren Prozessen bei der Agilisierung vor besonderen Herausforderungen im Vergleich zur freien Wirtschaft. Wie gehen Sie mit damit um?
Es geht uns nicht darum, eine vollständig agile Organisation aufzubauen – das ist auch deshalb nicht sinnvoll, da wir unsere Aufträge aus dem Auftrag zur kommunalen Daseinsvorsorge ableiten. Stattdessen arbeiten wir an einer Transition in den Projekten und ihrem Umfeld.
Die Stadtverwaltung ist durchaus zur Agilisierung fähig - wichtig bleiben klare Vorgaben, an die wir uns halten müssen. Agilität muss sich daher immer einen Korridor innerhalb eines konventionellen Umfeldes suchen, um so viel wie möglich zu verbessern.
Was bedeutet das konkret?
Wir haben gesetzliche Vorgaben, denen wir folgen müssen und die u. U. agiles Arbeiten erschweren oder erst gar nicht möglich machen. Beispielsweise funktionieren Vergabe- bzw. Ausschreibungsprozesse noch nicht agil. In unseren Projekten gibt es zudem viele Schnittstellen zu externen Beteiligten und Stakeholdern. Wenn davon einer nicht agil arbeiten kann oder möchte, erschwert dies möglicherweise bereits die Vertragsgestaltung, sowie das agile Arbeiten unsererseits.
Was uns generell von der reinen Agilität unterscheidet ist, dass nach wie vor die Rolle der Projektleitung auch in den agilen Projekten existiert. Es gibt gemäß Definition Aufgaben, die weder bei einem Scrum Master noch einem Product Owner liegen. Der Projektleiter liefert Statusberichte ab, verhandelt Ressourcen oder wandelt agile Ergebnisse in klassische Aussagen für die Kommunikation nach außen um.
Kompromisse müssen eingegangen und akzeptiert werden. Es gibt keine hundertprozentige Agilität und das ist auch in Ordnung.
Wie entscheiden Sie, ob ein Projekt agil oder klassisch durchgeführt wird?
Grundsätzlich beginnt die Einschätzung mit der initialen Projektberatung, spezifisch für die Aufgabenstellung eines Projektes. Die Kriterien sind dabei nicht immer die gleichen. Wir nutzen hierfür messbare Kriterien z. B. nach der Stacey Matrix.
Wenn ein Teil der Anforderungen unklar ist, die Stakeholder unterschiedliche Vorstellungen der Anforderung haben oder die Plattform noch unbekannt ist, dann spricht alles für Agilität, gemäß Ansätzen wie dem frühen Scheitern oder sich inkrementell voranzutasten.
Anders verhält es sich bei einer neuen gesetzlichen Vorgabe, die in mehreren städtischen Anwendungen eingeführt werden muss, wie die Anrede für das dritte Geschlecht. Das Umfeld und die Anforderung sind bekannt und eindeutig. Die Umsetzung bietet wenig Spielraum.
Hier ist Agilität nicht zwingend erforderlich und die Entscheidung fällt nach der Stacey Matrix auf das klassische Vorgehen.
Auch das Umfeld ist entscheidend. Wenn ein Projektauftrag durch die Auftraggeberin oder den Auftraggeber bereits mit einer geringen Affinität zur Agilität formuliert ist, dann ist dies möglicherweise auch im Lenkungskreis erkennbar. Wenn Agilität nicht erwünscht ist, sollte man diese auch nicht erzwingen.
In der initialen Projektberatung nutzen wir auch weiche Kriterien für den Entscheidungsprozess. Ist das Team beispielsweise im Rahmen der Rollenbesetzung fähig, einen Product Owner zu benennen? Ein Product Owner ist entgegen der klassischen Rollenzuordnung u.U. für mehrere Bereiche zuständig. In der Agilität sollten die Rollen danach verteilt werden, wie weit sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Aufgaben zutrauen und nicht, weil sie eine spezielle Bewertungsrolle haben.
Wir verwenden zusätzlich einen Fragenkatalog in der initialen Beratung. Zudem hat sich über die Zeit hierfür aber auch ein gewisses Gespür für die Einschätzung entwickelt.
Nach wie vor liegt Deutschland bei digitalen Verwaltungsdienstleistungen im EU-Vergleich unter dem Durchschnitt. Kann Agilität ein Mittel sein, um die Digitalisierung voranzutreiben?
Wir sind vorhin bereits auf das Verständnis für den Begriff Agilität eingegangen. Man sollte vorsichtig sein, den Begriff mit dem der Digitalisierung zu vermischen. Digitalisierung ist durch die Pandemie beispielsweise mit der Möglichkeit des Home Office stark vorangetrieben worden.
Digitalisierung ist definitiv ein wichtiger Faktor für die öffentliche Verwaltung. Ein Beispiel: Die Beantragung eines Führerscheins wird deutlich bequemer durch ein digitales Termin- oder Service-Angebot anstatt des klassischen Nummernziehens in der Behörde. Agilität hingegen findet vor allem noch in internen Projekten statt. In den Linienprozessen der öffentlichen Verwaltung ist diese oft schwierig umzusetzen. Ein Hund kann bei der Gemeinde nicht iterativ angemeldet werden - aber eine digitale Anmeldung – das geht!
Tauschen Sie sich mit anderen Organisationen aus?
Der Austausch mit anderen Bereichen ist uns sehr wichtig, v.a. auch mit der Wirtschaft.
Wir haben jedoch die Erfahrung gemacht, dass große Formate, wie Kongresse, weniger Mehrwert bringen als individuelle Vernetzungen. Auf einer Schulung zum Agile Coach tauscht man sich beispielsweise mit den anderen Teilnehmenden aus, die ähnliche Erfahrungen oder Herausforderungen haben – egal ob im öffentlichen Sektor oder in der Wirtschaft. Diese Art der Vernetzung ist für uns besonders wertvoll.
Dabei stellen wir immer wieder fest, dass wir uns als Stadtverwaltung beim Thema Agilität vor Unternehmen aus der Wirtschaft absolut nicht verstecken müssen.
Welche Pläne hat die LHM in Bezug auf Agilität für die Zukunft?
In den Jahren 2020 und 2021 haben wir die Leitplanken für agile Projekte entwickelt. Bis 2023 wollen wir diese entwickelten Ergebnisse verbreiten und bei der Umsetzung unterstützen.
Seitens unseres IT-Referenten haben wir den Auftrag, die Anzahl der derzeit etwa 20 agilen Projekte bis 2024 zu verdreifachen, nicht nur Projekte der IT - sondern auch in den Fachreferaten.
Das Ziel ist, dass Agilität – sofern es sich um geeignete Projekte handelt - der Default-Fall für jeden Projektauftrag ist und der Wunsch nach einem klassischen Vorgehen konkret begründet werden muss.
Außerdem hat die LHM KPIs zur Messung des agilen Reifegrads von Projekten entwickelt. Dadurch können wir die Entwicklung agiler Projekte über die Jahre hinweg monitoren und strukturiert bewerten.
Vielen Dank Herr Burger für das interessante Gespräch und den spannenden Austausch.