Falk Haarig, Paul Hewitt
Talk-Gäste unserer Lunch-Break Talks

"China ist Europa meist 2-3 Jahre voraus", Interview mit Falk Haarig.

Falk ist CMO bei PAUL HEWITT und lebt größtenteils in China.
Im Interview erzählt er, vor welchen Herausforderungen Marketing steht, was China den europäischen Ländern voraus hat und wie er das Marketing und den Vertrieb in seinem Unternehmen gestaltet.

1von2

Du bist CMO bei Paul Hewitt – wie gestalten sich Dein Aufgabengebiet und Deine Rolle?
Großgezogen hat man mich mal in verschiedenen Rollen in der Chemieindustrie, bis ich dann nach einer Station in der Automobilbranche in China zu PAUL HEWITT gestoßen bin. Von 2017 bis 2019 habe ich bei PAUL HEWITT den Einkauf und das Supply Chain Management aufgebaut. Parallel durfte ich PAUL HEWITT‘s asiatische B2B-Kanäle weiterentwickeln und das chinesische eCommerce-Geschäft aufbauen.​
Seit nunmehr fast 2 Jahren verantworte ich PAUL HEWITT‘s gesamtes Marketing und den Vertrieb. Insbesondere zählen dazu die Marketingstrategie, Kampagnenmanagement, unser digitales Marketing, D2C- und B2B-Vertrieb sowie Portfoliomanagement und Pricing.

Welche Innovationen und Trends im Bereich Digital Sales & Marketing (Geschäftsmodelle) sind Deiner Meinung nach gerade besonders stark? Wo siehst du Risiken, wo Möglichkeiten?
Zunächst einmal muss man sagen, dass die Effizienz im digitalen Marketing von beiden Seiten stark unter Druck steht: Die relativen Kosten steigen und gleichzeitig sinkt die Touchpoint-Effektivität. Das ist zum einen die Folge immer weiter steigender Konkurrenz um Online-Werbeplätze und zum anderen Ergebnis eines Gewöhnungsprozesses der Werbekonsumenten. Eine zweite Herausforderung erwächst aus den Einschränkungen im Datentracking – siehe iOS 14+ und 3rd-Party Cookies.​

Man muss also immer wieder neue Möglichkeiten finden, wie man seine Audiences bei Laune hält. Im Vordergrund steht nicht mehr unbedingt die reine Reichweite und Kontaktfrequenz. Der Schlüssel ist das Community Building – also wie intensiv, integrativ und interaktiv man seine Touchpoints gestaltet und Inhalte an den Interessen der Audience orientiert.​

Im Social Media Marketing gewinnen nicht mehr die Leute, welche die besten Cracks im Setup sind. Vielmehr ist das nun ein Creative Game. Mit der gewohnten Art von Posts und Stories und Reels erreicht man mit Influencern nicht mehr genügend, um die steigenden Kosten zu rechtfertigen. Vielmehr muss man die Influencer ins Community Building und die Content Creation mit einbeziehen. Zudem wird sogenannter „native“ aber markenkonformer UGC-Style Content immer gefragter. Dazu passen auch die jüngsten Gedanken im Social Commerce: Komplett integriertes Shopping inkl. Checkout innerhalb von Tiktok, Instagram und Facebook ist sicher nur noch eine Frage der Zeit. Sicher wird sich auch Whatsapp immer stärker im Online Business integriert.

Du lebst hauptsächlich in China – welchen Unterschied siehst Du zwischen Trends in China und Europa? Gibt es Annäherungen?
Im digitalen Bereich gibt es insgesamt eher weniger Unterscheide als vielmehr einen Time Lag. Seit einigen Jahren ist China einfach viel schneller als der Westen. Zudem kommt es mir so vor, als sei die Penetration digitaler Hilfsmittel auch unter Leuten in höherem Alter viel höher als in Europa – ohne Statistiken dazu zu kennen. Hinzu kommt, dass das Vertrauen in Digitaltechnologie in China vergleichsweise sehr hoch ist, was wiederum die Penetration und Skalierungsgeschwindigkeit digitaler Innovationen fördert. So ist ein Leben in China ohne Smartphone und Apps wie bspw. Wechat gar nicht mehr vorstellbar, vielleicht sogar kaum noch möglich.​

Das mag sowohl in Kultur, Mentalität und auch der Staatsform begründet liegen. Teil davon ist u. a. eine starke Fortschritts- und Unternehmerkultur: Sehr viele Chinesen und Chinesinnen träumen vom Wohlstand durch harte Arbeit als Selbstständige. Deswegen ist die Innovation im Kleinen sehr ausgeprägt. Hinzu kommt, dass die Tech-Branche in China über die Jahre sehr viel Finanzkraft angesammelt hat – man denke nur an Konzerne wie Alibaba, Tencent und Bytedance. In der Branche steckt viel Power, viele Kleininnovationen zu skalieren und neue große Würfe hervorzubringen, ohne institutionelle Investoren zu brauchen.​

Entscheidende Unterschiede liegen also in der Vielfalt und Geschwindigkeit, mit der sich die chinesische digitale Welt bewegt und immer neue Sachen nicht nur entwickelt, sondern auch konsequent im Markt umsetzt. Oft adaptiert der Westen mit 2-3 Jahren Verzögerung das, was sich hier durchgesetzt hat.

Welche Customer Insights sind für euch bei PH besonders wichtig, wie sammelt ihr diese und wie könnt ihr sie einsetzen? Auch im Hinblick auf die Weiterentwicklung Eures Geschäftsmodells?
Für die inhaltliche Strategie wollen wir wissen, wer unsere Kunden überhaupt sind. Was sind ihre Werte, ihre Wünsche und Vorlieben, was gefällt ihnen und wovon sind sie eher abgeneigt, in welchen Lebensphasen oder Situationen befinden sie sich usw. Aus solchen psychographischen Merkmalen gepaart mit demographischen Daten können wir dann Personas erstellen und diese mit unserer inhaltlichen Arbeit abgleichen. Warum ist das so wichtig? Weil man ja irgendwie immer ein fiktives Bild der Kunden vor Augen hat und daran ausgerichtet sein Marketing gestaltet. Wenn dieses Bild und die Realität zu weit auseinander klaffen, dann wird das mittelfristig nicht gut gehen und man muss gegensteuern. Hinzu kommt, die Werbeansprache so individuell und damit so relevant wie möglich gestalten zu können.​

Zudem geht es darum, welchen Marketing- und Vertriebskanälen wir uns mit welchem Zweck und welcher Intensität bedienen. Neben inhaltlichen Erfordernissen spielt hier natürlich eine große Rolle, wen wir wo in welchem Umfeld wie intensiv erreichen. Customer Journey Insights sind überaus wichtig, um Ansprachen und Retargeting im Marketingmix orchestrieren zu können.​

Mit unseren Kundendaten und qualitativen Analysen der Reaktionen im Social können wir schon viel machen. Ergänzt wird das durch Online-Erhebungen in unserer Kundschaft und Fan Base. Hinzu kommen dann noch operative ad-hoc Erhebungen wie bspw. unser laufendes Creative Testing im Social oder Umfragen zu neuen Produktdesigns. Insgesamt haben wir im Feld der Customer Insights aber noch einiges an Nachholbedarf. Klassischer Werbemitteltests haben wir uns bisher nicht bedient.

Seite teilen