Papierstapel
Auf dem Weg zur Verwaltung 4.0

Verwaltung in 10 Jahren. So einfach wie eine Reise buchen.

Wie arbeiten Behörden in 10 Jahren? Franz-Reinhard Habbel vom Deutschen Städte- und Gemeindebund und Dr. Helmut Drüke von Cassini über Kundenorientierung, Digitalisierung und Zusammenarbeit in der Verwaltung. Über digitale DNA, virtuelle Türen, Chatbots und moderne Leistungsverbünde.

Wie sieht die Verwaltung in 10 Jahren aus?
Habbel: Ein Behördengang wird dann so einfach wie eine Bestellung bei Amazon. Was wir in der Lebenswirklichkeit schon längst praktizieren, ist dann auch in der Welt der Behörden Realität.

Nennen Sie ein Beispiel
Drüke: Ein Kind wird geboren. Das Krankenhaus stellt automatisch eine elektronische Geburtsbescheinigung aus. Die landet im elektronischen Safe der Eltern. Das Standesamt nutzt die dort liegenden Daten für die selbstständige Geburtsanmeldung. So entsteht die digitale DNA dieses Bürgers für sein späteres Leben.

Wie beantragen die Eltern dieses Babys dann ihr Elterngeld?
Habbel: Gar nicht, das passiert wie die Aufnahme des Kindes in die Familienversicherung der Krankenkasse automatisch auf elektronischem Wege. Während die Mutter noch medizinisch versorgt wird, schaut der Vater sich auf seinem Smartphone weitere Informationen über Themen wie „Lebenslage Geburt“ an. Mir schwebt eine antragslose Verwaltung in allen Bereichen vor.

Das klingt wie eine ferne Vision.
Habbel: Keineswegs, das gibt es bereits seit zwei Jahren in unserem Nachbarland. In Österreich bekommen die Eltern bereits antragslos das Kindergeld überwiesen. Damit wurden 80 Prozent des Bearbeitungsaufwands abgeschafft. Die Kontonummer stammt übrigens von der Steuerbehörde. In Österreich ist es also bereits gelungen, die Silostruktur, bei der einzelne Ämter nur für bestimmte Vorgänge verantwortlich sind, in eine Netzwerkstruktur zu überführen. Das ist die Zukunft der Verwaltung: Unterschiedliche Behörden arbeiten zusammen und stellen sich auf die Lebenslage des Bürgers ein.

Drüke: Auch Spanien ist weiter als Deutschland. Als eines der ersten Länder hat es für jeden Bürger einen Safe für elektronische Dokumente eingeführt. Dabei handelt es sich um ein Postfach, in dem die staatlichen Behörden alle Daten zur Person sammeln und so auf die Bedürfnisse des Bürgers in jeder Lebenslage reagieren bzw. anlassbezogen agieren können. In Deutschland soll es noch mindestens fünf Jahre dauern, bis digitale Postfächer Wirklichkeit werden. Die deutsche Verwaltung liegt im internationalen Vergleich um Jahre zurück.

Wie sieht es heute aus, wenn ein Baby geboren wird? Müssen die Eltern alles selbst per Behördengang erledigen?
Habbel: Nein, es gibt einige Krankenhäuser, die automatisch eine Meldung über die Geburt bei den Behörden absetzen. Das war’s dann aber auch. Es fehlt eine weitere prozessuale Automatisierung, die Bescheide automatisch erstellt. Das liegt daran, dass die Kommunikation zwischen einzelnen Behörden und zu den Krankenkassen nicht standardisiert ist.

Das größte Problem in der Verwaltung ist das enge Denken in Zuständigkeiten.

Gibt es weitere Gründe, warum deutsche Behörden bei der Digitalisierung im internationalen Vergleich zurückliegen?
Habbel: Leider ja. Das größte Problem in der Verwaltung ist das enge Denken in Zuständigkeiten: Jeder hat seine Aufgabe und jeder erfüllt nur seine Aufgabe. Dieses Silodenken führt dazu, dass aus dem jeweiligen Amt heraus die gesamte Kette zusammengehöriger Aktivitäten kaum zu erfassen ist: Was passiert vorher oder nachher? Die Übergabepunkte in andere Behörden ist nur in Einzelfällen vorgesehen und nicht automatisiert.

In einer Forsa-Umfrage von 2011 waren nur 29 Prozent der Bürger zufrieden mit den Kontaktmöglichkeiten zu Ämtern und Behörden via Internet. Hat sich seither etwas verbessert
Habbel: Nein, es ist sogar noch schlechter geworden. Im Vergleich zu Österreich und der Schweiz nutzen heute noch weniger Bürger digitale Dienste. Das müssen wir ändern.

Drüke: Noch immer sind sie bei mehr als einem Drittel der Bürger völlig unbekannt. Laut einer Studie der Initiative 21 kennen 35 % der Bürger keine E-Government-Dienste. Nicht einmal die Hälfte der Bürger nutzt diese.

Wer sollte die erste Anlaufstelle für den Bürger sein? Der Bund, die Länder oder die Kommunen?
Habbel: Meiner Ansicht nach sind die Kommunen der Schlüssel, denn sie sind am nächsten am Bürger dran. Dazu brauchen wir mehr Kooperationen sowohl zwischen den Kommunen als auch zu Bund und Ländern. Erste Ansätze dazu gibt es bereits. So kommen im IT-Planungsrat Bund, Länder und Gemeinden zusammen. Das allein reicht aber nicht aus. So sollten wir auf kommunaler Ebene viel schneller Lösungen erarbeiten, etwa mit kommunalen Rechenzentren, die von den Menschen einfach genutzt werden können. Wir müssen die Verwaltungsreform stärker als bisher vom Nutzen des Bürgers aus angehen.

Drüke: Hier gibt es gerade enorme Fortschritte. Ich beschäftige mich seit 17 Jahren mit E-Government. Was im Moment im Zusammenspiel zwischen Bund, Länder und Gemeinden passiert, habe ich noch nie erlebt. Der Artikel 91c Grundgesetz ist ein Durchbruch auf der regulativen Ebene, der Voraussetzungen für ein flächendeckendes E-Government legt. Der nächste und entscheidende Schritt: Für jeden Bürger entlang seiner Lebenslagen eine digitale Prozesskette einführen.

Wie reagiert die Verwaltung auf die umfassende Digitalisierung der Gesellschaft?
Habbel: Die Lebenswelt der Menschen verändert sich durch Digitalisierung momentan schneller als die politische Systemwelt.  Unsere Institutionen kommen nicht mit. In Bereichen wie Mobilität, Energieversorgung, Bildung, Gesundheit und Sicherheit entwickelt die Digitalisierung eine massive Veränderungskraft. Das müsste die Verwaltung digital untermauern. Die Bürger leben ja längst in einer vernetzten Welt und erwarten das auch von der Verwaltung.
Davon sind wir besonders bei der digitalen Bildung noch meilenweit entfernt.

Warum tut sich die Verwaltung schwer im Umgang mit der digitalen Lebenswelt?
Habbel: Dazu muss ich ein wenig ausholen. Wir sind gerade in einer Umbruchphase, die durch Digitalisierung und Urbanisierung stark geprägt wird. Staaten steuern seit Jahrzehnten durch zwei Elemente: Recht und Geld. Mit der Digitalisierung kommt ein drittes Element hinzu, nämlich Daten. Die Verwaltung verfügt heute über eine Fülle elektronischer Daten. Wir sprechen von Datenströmen. Da stellen sich zwei Fragen: Wem gehören diese Daten? Und wie können wir damit Dienstleistungen und Geschäftsmodelle für den Bürger entwickeln, die sein Leben erleichtern? Dazu ein Beispiel: Wer mit dem Auto durch Berlin fährt, hinterlässt eine Menge Daten. Wem gehören sie: dem Autohersteller, dem Unternehmen, das die Navigationsgeräte zur Verfügung, Google oder dem Fahrer? Wie kommt aber die Stadt an die Daten heran, um eine vorausschauende Verkehrspolitik zu betreiben oder moderne Mobilitätslösungen anzubieten? Mit dieser Frage müssen wir uns schnell befassen. 

Diese Dienstleistungskonkurrenz durch Unternehmen erhöht auch den Druck auf die Verwaltung, sich zu modernisieren. Die Frage lautet: Wie steuern wir mit unseren Möglichkeiten und Kompetenzen das Staatswesen?

Warum hinkt die Verwaltung hinterher?
Habbel: Verwaltung ist geronnene Politik. Und Politik ist geronnene Lebenswelt. Wenn die Politik sich entscheidet, auf ein Problem in der Gesellschaft zu reagieren und etwa das Medienrecht ändert, dann dauert der Prozess von der Gesetzgebung bis zur Umsetzung in den Ämtern oftmals Jahre. Manchmal ist dann das Problem in der Gesellschaft schon verschwunden oder hat sich verändert. Zwischen Erkenntnis des Problems und Umsetzung der Lösung in den Ämtern müssen wir schneller werden. Ansonsten laufen wir weiter hinterher.  

Gibt es dafür ein aktuelles Beispiel?
Habbel: Eine ganze Reihe. Aktuell planen wir gemeinsame Plattformen als digitale Eingangstore für die Verwaltung. Das Stichwort heißt hier Portalverbund. Ich gehe aber davon aus, dass sich solche Webseiten in wenigen Jahren überholt haben. Stattdessen werden Chatbots für den Bürger Dienste eigenständig erledigen. Mit Chatbots – nicht zu verwechseln mit Socialbots – entstehen gerade völlig neue Türen in die Rathäuser. Diese Türen werden auch von Unternehmen wie Facebook, Apple und Co. definiert. Wenn ein Bürger heute etwas über einen Vorgang wissen will, klickt er nicht unbedingt die Such-Funktion des Amtes an, sondern bei Google. Diese Dienstleistungskonkurrenz durch Unternehmen erhöht auch den Druck auf die Verwaltung, sich zu modernisieren. Die Frage lautet: Wie steuern wir mit unseren Möglichkeiten und Kompetenzen das Staatswesen?

Drüke: Diese Frage stellt sich bei den Smart Cities-Initiativen. Hier geht es letztendlich darum, wem der öffentliche Raum gehört und wer ihn steuert. Bei manchen Projekten übernehmen Technologie-Konzerne, die sich neue Märkte erschließen wollen, die Steuerung. Andere wie Amsterdam sehen eine starke Partizipation der Bürger vor.

Ist das nicht auch eine Chance für die Verwaltung, bestimmte Dienstleistungen auszulagern? An Unternehmen oder an Bürger, die sich digital vernetzen?
Habbel: Das ist ein interessanter Aspekt, den wir auch unterstützen. Ich glaube, Menschen können sich durch Werkzeuge wie soziale Netzwerke so organisieren, dass gemeinschaftliche Leistungen entstehen. Sie entwickeln unterhalb der kommunalen Selbstverwaltung eine Bürgerselbstverwaltung. Eine Transformation vom Vater Staat zum Bürgerstaat.

Welche Aufgabe übernimmt dann noch der Staat?
Habbel: Da bleibt noch eine ganze Menge, wie zum Beispiel äußere, innere und soziale Sicherheit, Bildung und Gesundheit, um nur einige zu nennen. Die Aufgabe der Kommunen wird neben den Infrastrukturen insbesondere sein, das soziale Kapital der Gemeinschaft zu identifizieren, zu pflegen und in politische Prozesse einzubinden. Ein Beispiel: Wir haben Defizite bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, besonders wenn es um Fahrten aus dem ländlichen Raum in die Städte geht. Was passiert? Die Leute organisieren sich mit dem Smartphone selbst! Bauen Plattformen, auf denen sie Mitfahrgelegenheiten absprechen oder Pakete für andere zur Post mitnehmen. Diese Plattformtechnologie, die unterschiedliche Angebote mit Nutzern verbindet, wird eine große Rolle spielen. Hier können Kommunen Basisinfrastrukturen für eine bessere und schnellere Kommunikation zur Verfügung stellen, um dann Aufgaben an die Bürger abzugeben und das soziale Kapital einer Gemeinschaft zu nutzen.

Zeichnet sich hier eine neue Balance zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ab?
Drüke: Ich schlage Leistungsverbünde vor, bei denen Unternehmen, Ämter und Bürger gleichberechtigt zusammenarbeiten. Dazu gibt es wie in den Metropolregionen Ansätze. Hier werden öffentliche und private Akteure einbezogen, die je nach ihren Kompetenzen und Ressourcen Teilaufgaben erledigen. Die führende Rolle der hoheitlichen Instanzen wie Kommune oder Landesregierung darf dabei nie zur Debatte stehen. Insbesondere im ländlichen Raum stellen diese Leistungsverbünde eine mögliche Lösung für die schwindende Präsenz der öffentlichen Verwaltung dar.

Die öffentliche Verwaltung muss sich strukturell und im Mindset von Führungskräften und Beschäftigten grundlegend verändern.

Wie muss sich die Verwaltung verändern, um diesen Herausforderungen gewachsen zu sein?
Drüke: Die öffentliche Verwaltung muss sich strukturell und im Mindset von Führungskräften und Beschäftigten grundlegend verändern. Und zwar in zwei Bereichen: Im Front Office müssen Bürger auf allen Kanälen Zugang zur Verwaltung bekommen. Meine Zielvorstellung ist eine aufsuchende, berührungsarme Verwaltung. Mit Push-Informationen werden Bürger an Pflichten, Rechte und daran gebundene Termine erinnert. Die Verwaltung muss dahin gehen, wo sich die Bürger aufhalten. Bei öffentlichen Dienstleistungen im Haus- und Wohnbereich wird das Internet der Dinge eine wichtigere Rolle spielen. Gleichzeitig muss das Back Office modernisiert werden, z. B. indem sich Ämter Aufgaben wie IT-Dienste teilen. Es ist auch nicht nötig, dass jedes Rathaus jeden Dienst vorhält.

Werden auch Unternehmen und Bürger Verwaltungsaufgaben übernehmen?
Drüke: In den erwähnten Leistungsverbünden wirken Unternehmen, Ämter und Bürger je nach Kompetenz, Aufgabenstellung und Rechtsstatus zusammen. Das hört sich komplex an. Es gibt aber besonders im ländlichen Bereich keine Alternative zu diesen Netzwerkstrukturen. Dazu muss sich allerdings die Verwaltung von ihrem kleinteiligen Denken in Zuständigkeiten verabschieden und nach innovativen Lösungen suchen. Es gibt keinen zwingenden Grund, dass Verwaltungsstellen das ganze Spektrum an öffentlichen Dienstleistungen und Aufgaben selbstständig abdecken. Was mit den Shared Services als neuer Form der Kooperation zwischen Verwaltungsstellen begann, sollte auch für Fachverfahren angegangen werden.

Wer soll diese Vitalisierung der Verwaltung voranbringen?
Habbel: Solche Aufgaben kann natürlich kein einzelner Bürgermeister en passant erledigen. Alle gesellschaftlichen Kräfte sind gefordert, sich mit der Frage auseinander zu setzen, wie wir in Zukunft leben wollen. Daraus abgeleitet werden sich die Aufgaben des Staates verändern. Das ist ein Dauerprozess. Strukturen müssen an die Lebenswelt angepasst werden und die verändert sich nun mal. Veränderung ist die Normalität und nicht die Stabilität. Diese Erkenntnis ist die Grundvoraussetzung bei diesem Pfadwechsel.

Wie kann die Zukunft der Verwaltung schon heute getestet werden?
Habbel: Wir sollten uns hier mehr an der Wirtschaft orientieren, die einen hohen Prozentsatz ihres Umsatzes in die Forschung steckt. Die Kommunen „verwalten“ mehr als 200 Milliarden Euro pro Jahr, geben aber nicht einen Euro für die Forschung und Entwicklung aus. Das ist vom System so nicht vorgesehen. Warum gibt es kein Forschungslabor, in dem zum Beispiel Infrastrukturen für die Stadt der Zukunft getestet werden? Das Mind-Lab in Dänemark macht so etwas auch für die Städte und Gemeinden.

Aus welchem Grund sollen die nötigen Experten in die Verwaltung kommen, um die Modernisierung voranzubringen?
Drüke: Wir haben tatsächlich einen immensen Bedarf an IT-Fachleuten überall in der Wirtschaft und in der öffentlichen Verwaltung. Durch die umfassende Digitalisierung und konkret die Gesetze und Programme zur Erhöhung der IT-Sicherheit etwa zur Umsetzung des Gesetzes zu den kritischen Infrastrukturen werden überall IT-Fachkräfte benötigt. Eine Hürde ist die im Vergleich zu Wirtschaft geringere Bezahlung in der öffentlichen Verwaltung. Wir brauchen neue Anreize. Aber auch in Bezug auf den Mindset der Führungskräfte muss es einen Ruck geben, damit die Verwaltung verstärkt als Hort der Kreativität angesehen wird.

Habbel: Ich würde noch einen Schritt weitergehen: Wir brauchen ein neues Personalentwicklungsmodell für die 1,2 Millionen Mitarbeiter in der kommunalen Verwaltung. Dazu gehören auch neue Berufsbilder, die Arbeiten in der Verwaltung attraktiver machen. Ich denke hier zum Beispiel an Wandelgestalter, Potentialentdecker oder Beziehungsmanager. 

Das hört sich nach einem Startup an?
Habbel: Genau. Es geht darum, in der Verwaltung Arbeitsweisen der Startup-Kultur zu übernehmen. Aus diesem Grund arbeiten wir auch mit Startups zusammen, um Lösungen für die Verwaltung von morgen und übermorgen zu entwickeln. 

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