Berücksichtigt man zunächst die aktuelle Rolle von Führungskräften, wie sie in vielen Organisationen immer noch gelebt wird, so ist die Führungskompetenz durch die formelle Organisation definiert und abgegrenzt (formelle Führung). Bestehende Strukturen und das Führungsverständnis haben sich über Monate und Jahre herausgebildet und werden teils ohne Hinterfragen und Reflexion übernommen und gelebt. Auch hat sich das zugrundeliegende Führungsverständnis und -verhalten zunächst bewährt; wobei es einer anderen Zeit entstammt, und üblicherweise geprägt ist über die Erfahrung der jeweiligen Generation. So liegt in Generationen vor Y und Z eine starke Disziplin- und Hierarchieorientierung vor und so kann es passieren, dass die Rolle oft als ein nächster Schritt auf der Karriereleiter gesehen (wurde). Regelmäßig wird die Aufgabe durch Expertentum und Fachwissen untermauert, doch die (soziale) Führungskompetenz und der individuelle Fokus auf Mitarbeitende können fehlen. Insbesondere in Organisationen mit stark von außen definierten Strukturen und Hierarchien wird die Führungsaufgabe als übergeordnet, als prozessdefinierend und als meinungsführend gesehen.
Doch hier liegt bereits der erste blinde Fleck: Führung heißt nicht Herrschaft
Eine Führungsperson kann zwar Strukturen erhalten, für einen Gruppenzusammenhalt sorgen und das Erreichen von Zielen durch Individuen oder Gruppen sicherstellen; sie ist jedoch nicht im Sinne von Leiten und Führen die Person, die allein die Richtung vorgibt.
Hier liegt das Missverständnis der Führung im Verständnis von der Definition von Zielen als alleinige Aufgabe der Führungskraft und ohne den steten Fokus auf die Organisation und die Mitarbeitenden. Die Führungsaufgabe ist eine ausführende Tätigkeit, die zum Ziel der Organisation leitet und ein motivierendes Umfeld schafft. Eine Führungskraft ist der Organisation, dem Unternehmenszweck und dem Ziel des Teams, das wiederum in das Gesamtziel einzahlt, verpflichtet. Ihr Fokus liegt weder auf Macht noch (Allein)Herrschaft noch Kontrolle.
Unberücksichtigt bleibt in diesem Zusammenhang häufig auch die Rolle der informellen Führung. Führung als abstrakte Begrifflichkeit kann viele unterschiedliche Dimensionen beinhalten. So übernehmen Mitarbeitende in sich abgrenzenden Rollen und Kontexten tagtäglich Führungsfunktionen und üben damit Einfluss auf die Unternehmenskultur, Kommunikation, Arbeitsweisen und Vorgehensmodelle aus.
Demnach ist der zweite blinde Fleck, dass Führung weder ein Privileg, noch an eine formelle Rollendefinition gebunden ist.
Sowohl in Teams als auch in Arbeitsgruppen bildet sich stets eine informelle Führung heraus. Dies erfolgt vor Allem bei Mitarbeitenden aufgrund von Persönlichkeitsmerkmalen und kann sich auch aufgrund von herausragender Fachkompetenz bilden. Insbesondere im Zuge der derzeitigen Marktentwicklung mit Volatilität, Unsicherheit und individuell steigenden Anforderungen seitens Kunden und Mitarbeitenden entstehen neue und weitergehende Anforderungen an Führungskräfte. Die sogenannte Ambidextrie ist eine Voraussetzung für Unternehmen, um in Zukunft das „sowohl als auch“ besser abzubilden: Sowohl Stabilität, Strukturen und Sicherheit als auch Geschwindigkeit, Flexibilität und Skalierbarkeit. Eine Erfüllung muss zwangsläufig auch über informelle Führung und den stärkeren Einbezug aller Mitarbeitenden erfolgen. In diesem Zusammenhang bieten Ansätze von geteilter Führung und ein höherer Grad an Selbstorganisation neue passende Möglichkeit, den Herausforderungen gerecht werden zu können.
Greift man den Gedanken noch einmal auf, dass Führung keine Herrschaft und die Führungskraft dem Ziel der Organisation verpflichtet ist, so wird auch verständlich, wieso die Klarheit über die Führungsaufgabe und den Unternehmenszweck so wichtig sind. Durch Klarheit über das Ziel und das Lösen von Zielkonflikten kann ein sinnvoller Rahmen für die Arbeit eines Teams geschaffen werden. Genau in diesem Zusammenhang kann Führung die rahmengebende Komponente sein, die für Orientierung und Stabilität sorgt, gleichzeitig aber die notwendige Freiheit für das Wirken der Mitarbeitenden lässt und somit Selbstwirksamkeit ermöglicht. Durch die Orientierungspunkte sowie die Rollen- und Aufgabenklarheit, die geschaffen werden, wird die Resilienz (u. a. Widerstandskraft) der Mitarbeitenden und der Organisation gestärkt, was zu einer leistungsfähigeren und gesünderen Organisation führt.
Der letzte blinde Fleck äußert sich in Starre der Mitarbeitenden durch nicht authentisches Führungsverhalten
Die Herausforderung in einem teils unsteten Umfeld ist die Balance zwischen Stabilität und Strukturen sowie Flexibilität und Skalierbarkeit. Doch Führung bedeutet genau dann Unterstützung und Halt zu geben, wenn's gebraucht wird (und nur dann). Und wenn es vorkommt, dass Mitarbeitende mit Komplexität umgehen müssen und dennoch ihre Aufgaben meistern, sind Stabilität, Authentizität und eine gewisse Vorhersehbarkeit besonders wichtig. Gemeint ist damit Transparenz und Verlässlichkeit in der Führungsaufgabe und in Reaktionen, sodass gleiches Verhalten innerhalb der Mitarbeitenden-Führungsdynamik gleiche Reaktionen hervorbringt. Falls wiederkehrendes Verhalten unterschiedliche Konsequenzen von einer Führungskraft nach sich ziehen, werden Engagement und Anstrengung auf Dauer nicht mehr als sinnvoll und lohnend erachtet, da positive Konsequenzen nicht mehr erwartbar sind. Gemeint ist damit nicht das angepasste Handlungsvermögen im Rahmen von Reaktionen auf das Marktgeschehen und wirtschaftliche Aspekte (diese bedürfen klarer Kommunikation und Transparenz), es geht vielmehr um die Beziehung zwischen Mitarbeitenden und Führungskraft, und Reaktionen im Zusammenhang der disziplinarischen Führungsaufgabe. Denn als Resultat kann diese Situation zu Starre bei Mitarbeitenden führen: Engagement wird geringer, da es als sinnlos empfunden wird und daher ein Rückzug stattfindet. Die unstete Umgebung durch die Führungskraft führt zur Demotivation.