... vor gar nicht langer Zeit, ein Junge. Man nannte ihn „das Tapfere Schneiderlein“, denn er war tapfer und klug und flink und wusste gut mit allerlei Werkzeug umzugehen.
Doch das Tapfere Schneiderlein war nicht glücklich. Jeden Tag betrachtete er die Berge am Horizont und träumte von Abenteuern. „Hier kann ich nicht bleiben“, dachte er bei sich. „In dieser kleinen, engen Stadt komme ich nicht voran. Ich möchte neue Wege beschreiten und mich weiterentwickeln.“
Also schnürte er sein Bündel und machte sich auf ins Unbekannte.
Das Tapfere Schneiderlein wanderte viele Wochen und Monate im ganzen Land umher. Er traf viele Menschen und lernte eine Menge neue Dinge und wenn es ihm irgendwo gefiel, dann schlug er sein Lager auf und blieb eine Zeitlang. Doch er blieb nie lange am selben Ort. Rastlos wanderte er von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, ohne je irgendwo anzukommen.
„So kann es nicht weitergehen“, dachte er, als er eines Nachts sein Lager unter einem alten Baum aufschlug. „Nun habe ich so vieles gelernt, habe so viel erlebt, habe Riesen überlistet, ein Einhorn fortgeführt und ein Wildschwein gefangen, doch noch immer fühle ich mich rastlos. Vielleicht warten dort draußen noch weitere Abenteuer auf mich. Gefahren, die ich bezwingen muss, Hürden, die ich nehmen muss und Erfolge, die ich mir verdienen muss.“ Mit diesen Gedanken schlief er ein und als er am nächsten Morgen erwachte, da wusste er, was er zu tun hatte. Scharfsichtig wie er war, nahm er die Zeichen wahr, die er am Wegesrand sah. Die Zeichen kündeten von großen Herausforderungen und er frohlockte: „Nun kann ich abermals Abenteuer erleben und kann zeigen, was in mir steckt. Ob Riesen oder Wildschweine, Stürme oder große Seuchen – keine Herausforderung ist zu groß für mich, kein Konkurrent zu stark, denn ich bin das Tapfere Schneiderlein!" So sprach sich der Junge selbst Mut zu, als er sich tiefer und tiefer in den dunklen Wald hineinwagte, wo – wie man wusste – die größten Gefahren des ganzen Königreichs lauerten.
Doch gerade, als der junge Schneider beherzt in den Wald hinein spazieren wollte, stieß er mit dem Fuß an etwas und er stolperte und fiel hin. „Hoppla!“, sagte er und sah sich um. Dort, unter einem Haufen Laub verborgen, lag eine Gestalt. Er rappelte sich auf und scharrte mit den Händen die welken Blätter fort. Zum Vorschein kam ein wunderhübsches Mädchen deren schönes Antlitz sein Herz höherschlagen ließ, nur schnarchte sie wie ein Bär.
„Verzeiht, Fräulein“, sagte er, „ich muss wohl versehentlich über Euch gestolpert sein“. Doch das Mädchen antwortete nicht. „Hallo, Fräulein“, versuchte er es abermals, nun etwas lauter, doch das schöne Mädchen schlief einfach weiter. „Tja, sie wacht nicht auf“, stellte das Tapfere Schneiderlein fest. „Aber ich kann sie ja schlecht hier liegen lassen, bei all den Gefahren, die hier lauern.“
Während er noch überlegte, was er nun tun sollte, hörte er Hufgetrappel vom Waldrand her kommend.
Er sah einen Reiter auf einem Pferd, doch es war etwas an ihnen, das merkwürdig wirkte. Als der Reiter näher kam, sah der junge Schneider, dass dieser eine schwere, eiserne Rüstung trug. Auch sein Ross trug eine ebensolche Rüstung. Das kam dem Schneider seltsam vor und er stand auf und fragte „Wer seid Ihr, dass Ihr euch so in Eisen kleiden müsst?“.
Darauf antwortete der Reiter: „Heinrich, mein Name. Diese Rüstung dient nur meinem Schutz.“
„Das ist sicher nicht verkehrt“, antwortete das Tapfere Schneiderlein, „es gehen ja seltsame Dinge vor sich, derzeit.“
„Mich interessiert nicht, was draußen geschieht, solange nur alles seinen gewohnten Gang geht“, antwortete der Eiserne Heinrich. „Ich mag nämlich keine Überraschungen.“
Das Tapfere Schneiderlein runzelte die Stirn. „Ganz wie Ihr meint“, sagte er, „aber sagt mal, wärt Ihr so freundlich, mir behilflich zu sein? Ich trat soeben fast auf ein junges Mädchen, das sich hier zum Schlafen niedergelegt hat. Ich kann sie nicht wachbekommen, vielleicht gelingt es Euch?“
„Grundgütiger!“, rief der Eiserne Heinrich, „das kommt sehr unerwartet. Aber ich will sehen, was ich tun kann.“ Mit diesen Worten griff er in seine Rüstung und holte ein dickes Buch heraus. „Wollen wir doch einmal sehen, was das Regelwerk zum Thema schlafende Mägdelein im Walde zu sagen hat“, murmelte er.
Dem Schneider kam dies sehr merkwürdig vor, aber er schwieg, um den fremden Reiter nicht zu stören, während dieser in seinem seltsamen Regelwerk blätterte.
„Aha, da habe wir es ja“, rief Heinrich aus und leckte sich die Spitze seines Zeigefingers an. Er blätterte weiter bis er die passende Stelle gefunden hatte: „Paragraph 354, Absatz 2: Schlafende Mädchen in einem Laubhaufen sind unbedingt aufzuwecken, da ansonsten eine Erkältung droht“, las er vor. „Das bedeutet, wir müssen die junge Dame wecken.“
Mit diesen Worten trat er zu dem jungen Mädchen, bückte sich und tippte ihr sachte auf die Schulter. „Mit Verlaub, Fräulein“, sagte er, „Ihr könnt hier nicht schlafen, das ist gegen die Regeln.“
„Das habe ich schon versucht“, wandte der junge Schneider ein, doch Heinrich unterbrach ihn mit einer unwirschen Handbewegung. „Schschsch“, machte er, „ich glaube, sie wacht auf!“
Da reckte sich das junge Mädchen und schlug die Augen auf.
„Was tut Ihr hier im Laub?“, fragte der Eiserne Heinrich und schüttelte den Kopf, dass der Helm nur so klapperte. „Wisst ihr denn nicht, dass das gegen die Regeln ist? Der Bursche da“ – er deutete auf den jungen Schneider - „spricht außerdem dauernd von Gefahren. In solchen Zeiten legt man sich doch nicht in einen Laubhaufen! Wie heißt Ihr überhaupt?“
„Dornröschen“, sagte das Mädchen und gähnte herzhaft. „Ich muss wohl eingeschlafen sein“, murmelte sie.
„Und ob“, sagte das Tapfere Schneiderlein und nickte bekräftigend und hielt ihr seine Hand hin, um ihr aufzuhelfen. „Ich habe Euch hier gefunden, ihr wart derart am Schlafen, dass wir Euch fast nicht wach bekommen hätten. Mein Name ist übrigens Harald, aber meine Freunde nennen mich Das Tapfere Schneiderlein!“
„Angenehm“ antwortete Dornröschen müde.
„Heinrich, mein Name“, stellte sich der Reiter vor und sah sich misstrauisch um. „Was tut Ihr überhaupt hier in der Gegend?“
„Hab ich vergessen“, sagte Dornröschen und streckte sich. „Aber in solch schwierigen Zeiten ist es vermutlich ohnehin das Beste, wenn man sich einfach hinlegt und ein Ründchen schläft bis die Gefahr vorbeigezogen ist. Wo sind wir überhaupt?“
„In der Mitte von Nirgendwo“, antwortete das Tapfere Schneiderlein. „Aber warum zum Teufel…“ – wollte er fortfahren, doch er konnte seinen Satz nicht beenden, denn just in diesem Moment erschien direkt vor ihm eine schwarze, nach Schwefel stinkende Rauchwolke und darin stand eine winzige Gestalt mit roten Ohren, spitzen Zähnen und einem leuchtend roten Schwanz.
„Peng!“, machte die Gestalt und zwinkerte mit beiden Augen.
„Ah!“, rief Heinrich und griff sich ans Herz.
„Wer seid Ihr denn?“ fragte das Tapfere Schneiderlein, der sich als Erster wieder gefangen hatte.
„Gestatten, ich bin der Teufel“, sagte das Wesen und verbeugte sich. „Ihr habt gerufen?“