Und wer fährt jetzt mit welchem Framework am besten? Gibt es bestimmte LeSS- und SAFe-Branchen?
Es gibt Branchen, in denen das eine oder andere Framework sinnvoller ist. LeSS passt gut in Branchen wie IT oder E-Commerce, also zu Unternehmen, die es gewohnt sind, sich schneller zu drehen. Der Startpunkt ist hier ein ganz anderer als in klassischen Branchen wie Banken, Versicherungen oder Unternehmen der Ingenieurdisziplinen. Hier findet eher SAFe Anwendung. Dort herrscht oft noch eine strikte Trennung zwischen ganzen Bereichen: Anforderungsmanagement hier, Entwicklung da und Test nochmal separat. Die Abteilungen sind hier in der Ausgangssituation nicht so flexibel miteinander verbunden wie etwa beim E-Commerce. So hat die Komplexität von SAFe durchaus auch den Vorteil, dass es Lösungsideen an die Hand gibt, wie man mit regulatorischen und branchenspezifischen Vorgaben umgehen kann, im Automotive-Bereich beispielsweise, wo Prozessmodelle eingehalten werden müssen.
Tatsächlich sind regulatorische Anforderungen ein wesentlicher Punkt: Wie hoch ist mein Bedarf an Governance und Compliance? Wenn ich eher in regulierten Märkten unterwegs bin wie im Finanz-, Automotive- oder öffentlichen Sektor, dann brauche ich eine gewisse Plan- und Nachweisbarkeit. Hier spielt SAFe seine Stärken aus. Organisationen, die eher innovationsgetrieben sind und einen hohen Bedarf an kurzfristiger Flexibilität bei hoher Volatilität im Markt haben, sollten über LeSS nachdenken.
Sehen Sie neben den jeweiligen Vorteilen auch Kritikpunkte bei SAFe bzw. LeSS?
Meine Kritik an SAFe ist der Hang zur Gigantomanie in den letzten drei Jahren. Das Framework wurde immer größer und komplexer. Damit sichert Scaled Agile Inc. durch notwendige Lizensierung und Trainings aber schlicht seinen Umsatz. Andererseits ist es das einzige Framework, das für richtig große Organisationen beschrieben wurde, für 100 Entwickler an einem Projekt und mehr. Es ist auch das einzige Framework, das sich mit Fragen wie Budgetierung oder Organisationszuschnitt zumindest beschäftigt hat.
Mein Hauptkritikpunkt an LeSS ist, dass es für eine richtig große Entwicklungsorganisation zu viel Freiraum und entsprechend zu wenig Führung vorsieht. Eine bewusste Entscheidung. Man muss sich aktiver damit auseinanderzusetzen, was zur agilen Transformation beiträgt. Zumal: Man hat keine andere Wahl, als sich mit agiler Kultur auseinanderzusetzen oder mit dem Produktzuschnitt. Mitarbeiter sind bei LeSS dafür auch deutlich näher am Produkt.
Welche Rolle spielt eine Beratung bei der Entscheidung für oder gegen ein Skalierungs-Framework?
SAFe und LeSS sind im Grunde Produkte am Markt. Die Entscheidung für ein Framework entwickelt sich bewusst aus Fragen zur Größe der Entwicklungsorganisation, zu Branche und Regulierung, zum angestrebten Produkt und möglichen Teilprodukten sowie zur bestehenden Agile-Reife. Wir helfen dabei, diese Daten zu analysieren und eine Vorgehensweise abzuleiten. Soll es ein bestimmtes Framework sein oder baut man sein eigenes Entwicklungsmodell – unabhängig von Frameworks?
Ein häufiger Fall aus der Praxis ist die Grundsteinlegung mit einem vorgegebenen Framework, das man dann individuell ans Unternehmen anpasst. Ein für das Change-Management wichtiger Aspekt: Die Anpassung des Frameworks erfolgt zusammen mit den Mitarbeitern. Wir begleiten den Prozess mit fachlichem Input und unserer Erfahrung. Wir stellen z. B. Szenarien der Skalierung auf und überprüfen sie gemeinsam mit den Mitarbeitern auf ihre Tragfähigkeit. Wir bieten neutrale Beratung und neutrale Produktauswahl, aber eben auch die Begleitung des eigentlichen Change. Denn mit einem agilen Framework allein schafft man noch keine agile Kultur.